Erfahrungen eines Diplomaten


In einem pointierten und spannend zu lesenden Aufsatz empfiehlt Botschafter Dr. Herbert Grubmayr mit langjähriger Erfahrung im diplomatischen Dienst Russisch zu wählen: 

 

 

Herbert Grubmayr

 

Warum sollte man (noch immer) Russisch lernen?

 

Wenn ich an die russische Sprache denke, dann steigen in mir unweigerlich Erinnerungen an meine Jugend empor; der Umstand, dass ich mich in relativ frühen Jahren schon mit dieser Sprache beschäftigte, hat dazu beigetragen, meinen Lebens- und Berufsweg in entscheidender Weise zu beeinflussen.

Es waren - aus heutiger Sicht – verrückte Zeiten; „cool bleiben“ - eine Fundamentalmaxime der heute heranwachsenden Generationen, war unter den obwaltenden Umständen nicht so leicht zu bewerkstelligen.

 Russisch im Zeichen von serp i molot[i]

Im Spätherbst 1944 verkündete der deutsche Wehrmachtsbericht wieder einmal, dass sich „unsere“ Kräfte (dies war die 6. SS-Panzerarmee unter dem Kommando von Sepp Dietrich, dem früheren Chef der Leibwache Hitlers) in Ungarn in siegreichen Abwehrkämpfen gegen die „Bolschewisten“ behauptet hätten, diesmal am Plattensee. Damit rückte die Front jetzt schon ziemlich nahe an meine engere Heimat heran - ich lebte damals in St. Pölten. So ging ich schweren Herzens in meine Schulbuchhandlung Schubert und erstand dort „Langenscheidt´s Unterrichtsbriefe für Russisch“. Denn die von uns allen bis dahin gehegte Hoffnung, dass die Amerikaner zu uns kämen, schwand angesichts dieser alarmierenden Entwicklungen immer mehr dahin.

Also setzte ich mich hin, um möglichst rasch das zyrillische Alphabet, einen notdürftigen Vokabelschatz und die wichtigsten grammatischen Grundregeln zu erlernen. Letztere erinnerten mich in ihrer Vielfalt sehr lebhaft an die einschlägigen Tabellen im Lateinlehrbuch, welches uns damals im Realgymnasium auch das Leben schwer machte. Besonders mühsam empfand ich das „Strebern“ der Zahlwörter-Deklinationen - und ich verwünschte auch die Bosheiten der russischen Grammatikkonstrukteure hinsichtlich der ziffernabhängigen Variabilität der Mehrzahlbildung bei den Nomina.

Ja, und am 8. Mai war es dann soweit, dass ich die mühsam in autodidaktischer Arbeit erworbenen Sprachkenntnisse in der Praxis anwenden konnte. Ich war inzwischen von St. Pölten in meine Geburtsstadt Scheibbs (Mostviertel) geflohen, um dem Einberufungsbefehl zur deutschen Wehrmacht nach Spratzern (Kaserne bei St. Pölten) zu entrinnen und hatte dann in Scheibbs am 1. Mai noch an einer Trauerkundgebung „für unseren den Heldentod gestorbenen Führer“ teilnehmen müssen. Eine Woche später, am 8.d.M. rollten die sowjetischen Panzer in Scheibbs ein und alsbald erschienen auch die KGB-Leute mit ihren ominösen rot-blauen Schirmmützen. Sie durchsuchten den Ort sofort nach versprengten deutschen Landsern. Und da raunte mir ein netter Scheibbser zu, die „Rotkappler“ hätten vor allem junge Männer in Zivil im Visier, da sie davon ausgingen, dass es sich dabei um Wehrmachtssoldaten handle, die im letzten Augenblick noch ihre Uniform gegen Zivilkleider vertauscht hätten.

Ich warf mich also ungesäumt in ein Fleischhauer-Outfit (weiße Schürze, weißes Jäckchen), was mir relativ leicht fiel, weil mein Onkel, zu dem ich geflüchtet war, eine Fleischhauerei betrieb. Als mich dann tatsächlich auf der Hauptstraße ein sowjetischer Soldat aufhalten wollte, schrie ich laut: „ja djelaju kolbasu!“ („Ich mache Wurst“) und siehe da, er ließ ab von mir, denn der sowjetische Stadtkommandant hatte sofort nach dem Einmarsch Würste von unserem Betrieb verlangt und seinen Soldaten verboten, die Arbeiter der Fleischhauerei zu belästigen.

Ob mich meine (noch sehr spärlichen) Russischkenntnisse bei diesem Vorfall von einer Freifahrt nach Sibirien bewahrt hatten? Es wurden tatsächlich auch noch zu Kriegsende gemachte Gefangene in die „rodina sozialisma“ („Heimat des Sozialismus“) überführt, um dort an dem Wiederaufbau mitzuwirken. Dann hätten sich die Auslagen für das Langenscheidt-Lehrbuch ja wohl ausgezahlt …

Der „Sprachkurs“ ging weiter! Eine Nacht später wurde ich gleich als Russisch-„Sachverständiger“ angeheuert: In der lokalen Druckerei musste mit Lettern, welche die Russen mitgebracht hatten, ein Tagesbefehl von Josef Stalin anlässlich des Siegestages (nach sowjetischer Version der 9.Mai) produziert werden. Ich verstand zwar nichts vom Buchdruckergewerbe, aber die Blätter mit diesem „prazdnitschnij prikaz o pobjede“ („Festtagsbefehl anlässlich des Sieges“) mussten nachher solcherart gefaltet werden, dass der Text in der richtigen Reihenfolge gelesen werden konnte, und dazu brauchte es eben zumindest rudimentäre Kenntnisse der russischen Sprache. Die sowjetischen Funktionäre (ich glaube, es waren auch Geheimdienstmänner) wollten sich nicht selbst mit dieser eintönigen Arbeit beschäftigen, sondern den Sieg feiern. So kam ich für eine Nacht zu der Ehre, als deutscher?/österreichischer? „Zwangsarbeiter“ mehrere tausend solcher Faltprospekte richtig zusammenzulegen. Das Sowjetwappen mit Hammer und Sichel, welches zusammen mit Titel und Namen des mudrij woschd narodow („Führer der Völker“ - ein damals sehr beliebtes Epitheton für Josef Stalin) auf der ersten Seite dieser torschestwennich bumaschek („Festzetteln“) prangte, wird nie aus meinem Gedächtnis entschwinden!

Nächste Station auf dem Weg zum vollendeten Schrift- und Klangbild des Heiligen Kyrill: Juni 1945, Wiederaufnahme des Unterrichts an meinem Gymnasium in St. Pölten. Der Direktor teilte uns mit, der Stadtkommandant habe befohlen, alle Schüler müssten freiwillig am Russischunterricht teilnehmen, sonst würden weitere Häuser in der Stadt für die Zwecke der Besatzungsmacht beschlagnahmt. Der Schulleiter – es war immer noch der gleiche, der uns kurz vorher die Durchhalteparolen Adolf Hitlers vermittelt hatte(„Kampf bis zum Endsieg…“) hebt beschwörend die Hände und wir unterschreiben alle, scharf beäugt von dem einzigen Kommunisten, den wir in der Klasse hatten - und der natürlich alles Geschehen im Schulzimmer an die „Kommendantura“ weiter meldete.

Ich besuchte dann noch einen Monat in der 6. Klasse und die gesamten zwei letzten Jahre meiner Mittelschulzeit den Russischunterricht und fand trotz der etwas widrigen allgemeinen Umstände jener Zeit steigenden Gefallen an dieser Sprache, sodass ich nach Beginn meiner Hochschulstudien in Wien auch Russisch inskribierte und nebenher bei dem zu jener Zeit allseits beliebten exilrussischen Professor Krotkoff Stunden nahm.

 

Staatsvertrag, Moskau und Warschauer Pakt – deutsch oder russisch?

1952 trat ich in den österreichischen Außendienst ein. Mein sehnlichster Wunsch war es, in die USA geschickt zu werden; nach so vielen Jahren Besatzung , die wir in Wien und Niederösterreich vor allem als ideologisch geprägtes Fremdregime empfanden, wollte ich wieder nach Amerika zurück, wo ich schon ein Jahr als Stipendiat verbracht hatte. Doch es kam anders: im Jänner 1955 eröffnete mir mein unmittelbarer Chef, Dr. Kurt Waldheim (später Generalsekretär der UNO und Bundespräsident), ich müsse mich innerhalb kürzester Frist an die Botschaft Moskau in Marsch setzen – der dort zugeteilte Beamte habe wegen einer Disziplinlosigkeit den Zorn der höheren hierarchischen Ränge des Außenamtes erregt und sei bereits nach Wien zurückberufen. Ich hätte in meinem Personalakt Russisch als eine der mir geläufigen Fremdsprachen vermerkt und sei daher als Nachfolger vorgesehen. Ich versuchte zu protestieren – aber vergeblich und anfangs März war ich bereits an meinem neuen Dienstort eingelangt. Im Monat darauf kam die österreichische Regierungsdelegation nach Moskau, man verhandelte über den Staatsvertrag und ich war unvermittelt ins Zentrum dieses turbulenten Geschehens mit eingebunden. So bot sich mir die Gelegenheit, mit den Politbüromitgliedern Konversation zu machen, und ich benützte dies, um den Ersten Parteisekretär Chruschtschow um ein Autogramm auf der Menükarte des für unsere Regierungsspitze im Kreml gegebenen Festbanketts anzuschnorren. Dies alles wäre ohne Russischkenntnisse undenkbar gewesen, denn für mich als jungen Beamten hätte man keinen Dolmetsch bemüht. Auch der Ministerpräsident Bulganin zog mich ins Gespräch und steckte mir russische Bonbons zu, deren Hülle das berühmte Bärenbild („Utro w sosnowom lesu“)des russischen Malers Schischkin zeigte. Ich war zuerst ein bisschen verlegen, misstraute anfänglich auch der Güte meiner Russischkenntnisse, aber alle diese würdigen Herren zeigten sich beeindruckt von meinen sprachlichen Fähigkeiten und nahmen mich sozusagen während der gesellschaftlichen Kontakte im Zuge des Besuchs aus Österreich „als ihresgleichen“ wahr.

Die Unterzeichnung des Staatsvertrages nahte heran, in Moskau brach große Hektik aus– der Warschau-Pakt stand parallel dazu auch zur Fertigstellung bereit und ich wurde aufgefordert, als österreichischer Geschäftsträger vor einem „erlesenen“ Publikum über die Bedeutung des Staatsvertrages für die österreichisch-sowjetischen Beziehungen etwas zum Besten zu geben. Dieser Einladung konnte man sich natürlich nicht entziehen, aber da gab es gleich eine heikle Frage, sollte ich deutsch oder russisch das Wort ergreifen? Ich tendierte zuerst zu letzterem, war ich doch stolz auf meine Kenntnisse, aber dann reifte doch der Gedanke, dass ich zu solch einem hochoffiziellen Anlass wohl die eigene Muttersprache verwenden musste – mit konsekutiver Übersetzung durch meinen Botschaftskollegen Camillo Schwarz, einen Slawisten, der in der Botschaft auch als Übersetzer tätig war. Dies ist auch eine heikle Sache beim Fremdsprachenlernen – wann kann man sein linguistisches Geschick wirklich im öffentlichen Glanz erstrahlen lassen? Und unter welchen Umständen wird das Polyglotte inopportun oder gar aufdringlich bzw. kriecherisch? Und während also Molotow in Warschau ein Bollwerk des kalten Krieges mit seiner Unterschrift besiegelte und dann nach Wien weiter flog, um bei der letzten Vorbesprechung mit seinen westlichen Kollegen den Weg für die Zeremonie im Schloss Belvedere am nächsten Morgen frei zu machen, plagte ich mich in der Botschaft in Moskau mit der Abfassung der Jubelbotschaft, die ich am Abend unseren sowjetischen Freunden verkünden sollte.

Wir starteten mit einem russischsprachigen Entwurf aus schon von früheren Schriftstücken vorhandenen Textblöcken, den wir nach und nach ins Deutsche übertrugen(es ist ja leichter, von der Fremdsprache in die Muttersprache zu übersetzen als umgekehrt!), und dann gab es wieder Passagen, die wir unbedingt in einer vorgegebenen deutschsprachigen Formulierung benötigten (für die nachträgliche Vorlage nach Wien!), und da kam es dann erneut zu einer Rückübertragung ins Russische. Aber wir brachten die Gruß- und Freundschaftsbotschaft – das war es eigentlich – in beiden Sprachversionen gut hin und wurden von den Anwesenden eifrig beklatscht (was hätten sie auch sonst tun sollen – Brüderlichkeit mit Awstrija war ja jetzt vom Politbüro eindeutig vorgegeben worden!)

 

Visahoheit in russischsprachiger Verkleidung

Als gegen Ende Juli 1955 der Staatsvertrag in Kraft trat, zitierte mich Herr Gromyko, damals 1. Stellvertretender Außenminister in sein Büro (ich war Geschäftsträger, weil mein Botschafter auf Urlaub weilte) und begann, mir auf Russisch schnell und nicht sehr deutlich artikuliert eine Note vorzulesen, offenbar weil man ihm gesagt hatte, der Mann kann ja ohnehin die Sprache. Es handelte sich darum, dass sowjetische Staatsbürger ab sofort zur Fahrt nach Österreich von uns Einreisesichtvermerke (Visa) benötigen würden (während sie bis dahin mit sowjetischem Militär-Propusk (Militärausweis) unser Land betreten konnten.) Dies bedeutete für uns die Wiedererlangung eines wichtigen Bestandteils der staatlichen Souveränität! Und dabei kam ich wegen der juristischen Kompliziertheit des Verhandlungsgegenstandes und der phonetischen Sorglosigkeit, mit der der sowjetische Funktionär seinen Text herunterleierte , leicht ins Schwitzen, vor allem auch deswegen, weil die Sache sehr heikel war: die Visa mussten ja in der Hauptsache wir an der Botschaft ausstellen und auch nur mindere Fehltritte dabei hätten genügt, um mir mit meinen vorgesetzten Stellen in Wien schwerwiegende Probleme zu bescheren.

 Aber solche stressige „Gesprächsübungen“ schärften meine Rezeptionskapazität und trugen auch zu einer Verminderung der Nervosität bei, die mich am Anfang bei solchen Gelegenheiten plagte.

 

Als Russ(isch-)land-Verbinder beim Regierungschef

Schon bald nach Abschluss des Staatsvertrages wurde mir der Posten eines der beiden Sekretäre des Bundeskanzlers angeboten (das System funktionierte damals so, dass die zwei Sekretäre eine Art von janusköpfigem Kabinettschef in der heutigen Diktion darstellten). Die Wahl fiel auf mich vor allem deswegen, weil Kanzler Raab einen direkten Draht zur sowjetischen Botschaft in Wien wünschte, ohne Zwischenschaltung des Außenamtes. Und da spielten meine Moskauer Erfahrungen und vor allem meine Russischkenntnisse eine ausschlaggebende Rolle (allerdings nicht nur das allein: der Umstand, dass ich lange in der Heimatstadt Raabs, St. Pölten, gewohnt hatte und niederösterreichischen Dialekt fast fehlerlos beherrschte, half - angesichts des Alters und des eher fragilen Gesundheitszustandes des Regierungschefs , der sich nicht mehr recht an „Neues“ in seiner Umgebung gewöhnen wollte - dazu, dass die Wahl auf mich fiel, obwohl es eine Reihe anderer Kandidaten gab, die von verschiedenen ÖVP-Politikern gefördert wurden).

Ich hatte dann bei einem Besuch Chruschtschows in Österreich im Jahre 1960 Vieraugen-Gespräche der beiden Staatsmänner übersetzt und bei diesem Anlass ergab sich die Notwendigkeit, aus dem abgründigsten „St. Pöltnerisch“(das Gespräch fand zu sehr fortgeschrittener Stunde statt und Raab war ziemlich ermüdet) wichtige Inhalte direkt auf „moskowitisch“ zu übertragen, wozu der russische Dolmetsch, der die Sprache Goethes in Bonn gelernt hatte, klarerweise nicht imstande war; darum musste ich mit meiner subtilen Mostviertler-Deutsch Festplatte einspringen.

Der Besuch des sowjetischen „ersten Mannes“ (er trug im Fachjargon den Spitznamen „Perwij“, abgeleitet von dem im parteiamtlichen Nomenklatura-Russisch üblichen Titel Perwij Sekretar ZK) bescherte mir im Übrigen auch mein Eheglück: bei einer Busreise quer durch Österreich, zu der Raab seinen Gast und dessen engere Entourage eingeladen hatte, lernte ich meine spätere Ehefrau kennen. Sie war als Betreuerin der weiblichen Delegationsmitglieder an Bord geholt worden. Auch sie musste als Niederösterreicherin nach dem Krieg „freiwillig“ Russisch lernen und deswegen wurde sie zugezogen. Die schicksalsträchtige Konsequenz dieser linguistischen Affinität: im Jänner 1963 wurden wir ein Paar.

Also: Nikita Sergejewitsch stal naschim swatym[ii], was heißt das? Für Adepten der Slawistik kein Problem, einfach im Wörterbuch nachlesen, und für ganz blutige Anfänger gilt der Ratschlag: erst einmal das zyrillische Alphabet büffeln, dann findet man alles „wo sloware“ („im Wörterbuch“)!

Hier könnte jemand argwöhnen, dass es sich bei diesem Beitrag um ein höheren Orts (diese Russischprofessoren…) bestelltes Agitprop-Pamphlet für eine Aktion: „Nuschno objasatelno utschitsa russkomu jasiku!“ („Man muss unbedingt Russisch lernen“) handelt; aber es spielte sich in meiner Lebensgeschichte wirklich alles so ab wie geschildert - meine Frau Chelga Franzowna steht als Zeitzeugin zur Verfügung! In obiger Textierung ist eine weitere linguistische Subtilität betreffend gesellschaftlicher Konventionen verborgen, welche auch wieder zusätzliche Kapazitäten in der zerebralen Festplatte des Russisch-Lehrlings beansprucht: es wirkt im gesellschaftlichen Umgang echt unhöflich und auch zugangshemmend, wenn man von seinem jeweiligen Mitredner(in) nicht jederzeit die vom Bug bis zum Ochotskischen Meer gebräuchliche Anrede aus dem Gedächtnis abrufen kann: Vorname + „otschestwo“ (Vatersname) des Konversationspartners müssen wie aus der Pistole geschossen herauskommen; wehe, wenn man etwa beim Vatersnamen ins Stottern gerät! Und was ist der „Vatersname“ nun wirklich in diesem Konnex? Ja, der Vorname des Vaters des/der Angesprochenen, aber nicht einfach so, wie der Name im normalen Gebrauch lautet, weit gefehlt, man muss da noch eine Endung dranhängen, die für männliche und weibliche Personen ganz verschieden gebildet wird und im Einzelfall (z.B. beim Vornamen „Jurij“) noch einmal von den allgemeinen Regeln abweicht. Dieser Exkurs in die Besonderheiten des Russischen ist nicht als Abschreckung gedacht, sondern im Gegenteil als challenge für geistig sehr mobile Philologie-Interessenten!

 

Als Botschafter im sowjetischen Politteich

Als ich 1985 nach einer 25- jährigen Pause – nunmehr als österreichischer Botschafter - wieder sowjetischen Boden betrat, hatte ich in der Zwischenzeit mein Russisch weiter gepflegt, sodass ich die zweite Moskau-Tour, die bis 1990 währte, schon als „gewiefter“ Russisch-Speaker antrat. In diesen Jahren verwendete ich meine Kenntnisse dann auch dafür, um intensiver in die inneren Strukturen der Nomenklatura-Netzwerke, welche das Land beherrschten, einzudringen, nachdem diese sich unter dem Einfluss des Gorbatschow-Schlagwortes von der glasnost allmählich gegenüber westlichen Ausländern aufgelockerter zeigten. Aber diese Annäherung funktionierte in den meisten Fällen nur dann, wenn man ohne das Dazwischentreten von lästigen Zeugen, wie es Dolmetscher nun einmal sind, mit ihren Mitgliedern in Kontakt zu treten suchte. Dies galt vor allem für den sogenannten „Apparat des Zentralkomitees“, der von einem zwischen Rotem und Altem Platz (Staraja Ploschad) gelegenen und zur Außenwelt ziemlich abgeschlossenen „Dörfchen“ aus das riesige Reich unter der Ägide des Politbüros regierte. Heute funktioniert dort mit unwesentlichen organisatorischen Anpassungen der „Apparat des Präsidenten“ in analoger Funktion.

Da gelang es dann bisweilen, wenn man die Amtsdiener und KGB-Wachen in ihrer Sprache anreden und die Türtaferln lesen konnte, auch einmal auf einen Plausch zu einem anderen Funktionär als demjenigen, bei dem man vorher angemeldet war, hineinzuschlüpfen.

Eine besondere Spezialität des Systems bestand darin, dass an der Tür jeweils nur der Name des dahinter amtierenden Mitarbeiters zu lesen war, nichts aber über seine Funktion, die ohnehin sowerschenno sekretno („absolut geheim“) war! Nun, die eigenen Leute wussten ja, „wer wer war“ und naseweise Nicht-Nomenklaturisten hätten in dem erhabenen Herrschertempel ohnehin nichts zu suchen, tschort wosmi…

Dieses sanfte door-crashing stellte sich oft als sehr nützlich für die Informationssammlung bzw. Nachrichtenübermittlung heraus. Ich konnte da so ein bisschen wie der Fisch im Teich im „Allerheiligsten“ der Führungselite herum plantschen.

Ein ausländischer Diplomat, der die Sprache nicht beherrschte und sich vielleicht angemaßt hätte, mit Hilfe eines Dragomans durch die heiligen Hallen zu wandeln, wäre unweigerlich zum Scheitern verurteilt gewesen und wahrscheinlich unhöflich an die frische (?) Luft gesetzt worden.

 

Pensionskarriere „po russkij“[iii]

Als ich zusammen mit meiner Frau im September 1990 Moskau verließ, fasste ich dies als einen endgültigen Abschied auf – aber weit gefehlt. Als frisch gebackener Pensionist musste ich anfangs 1995 wieder in die nun schon „russisch“ gewordene Kapitale an der Moskwa reisen, um gegenüber Präsident Jelzin und seinem engeren Stab eine eher heikle Mission im Auftrag des damaligen Außenministers Alois Mock auszuführen. Da verwendete ich mein Russisch dazu, im Gästezimmer unserer Botschaft, wo ich Quartier genommen hatte, diejenigen Teile meines Auftrages, welche ich keinesfalls „von Mann zu Mann“ (weibliche Gegenüber hatte man damals im Kreml auf höherer Ebene noch kaum) loswerden wollte, laut und deutlich jedes Wort betonend in der Landessprache aufzusagen – in der Hoffnung, dass das elektronische Equipment des (ex-)sowjetischen Abhördienstes noch funktionierte. Und mein Vorhaben gelang offensichtlich: am nächsten Morgen bekam ich im Kreml etwas vage und mürrisch, aber immerhin doch eine Antwort auf mein „Vorbringen“, welches ich den Adressaten auf diesem etwas ungewöhnlichen Wege hatte zukommen lassen.

Dann ging es Schlag auf Schlag weiter: im März 1995 ersuchte man mich, ein UNDP[iv]-Projekt, an dem sich Österreich finanziell beteiligt hatte und welches das kirgisische Außenministerium betraf, vor Ort zu überprüfen. Ich flog also nach Bischkek, welches ich während meiner Dienstzeit in Moskau noch als „Frunse“ besucht hatte. [v]In der genannten Behörde wurde damals russisch weiterhin als Amts- und Verkehrssprache verwendet, offensichtlich aus diesem Grund kam ich zum Zug.

Im Sommer des gleichen Jahres nominierte mich unser Außenministerium für die Position des Leiters der OSZE-Mission in Tallinn, meine Aufgabe: die „armen“ Russen (mehr als ein Viertel der Bevölkerung von Estland waren ethnische Russen!) gegen die „bösen“ Esten zu schützen, welche die zweifelhaften „ Wohltaten“, welche ihnen von sowjetischer Seite 1940/41 und 1944/1990 beschert worden waren, nicht so schnell vergessen konnten.

Dabei ergaben sich skurrile Situationen: die estnischen Behördeneliten, welche damals noch fast in ihrer Gesamtheit russisch mindestens ebenso gut beherrschten wie ihre Muttersprache, weigerten sich, mir gegenüber Russisch zu verwenden, also „switchten“ wir (ich verwende dieses Wort, um gut neudeutsch zu parlieren) auf Englisch. Einmal brach ein ziemlich heftiger Konflikt wegen der zulässigen Amtssprache in Gemeinderäten aus, es ergab sich eine knappe, unbedingt einzuhaltende Zeitschiene für ein Gesetz und ich musste darüber mit dem estnischen Innenminister verhandeln, von dem ich wusste, dass er sich absolut weigerte, Russisch zu sprechen. Sein Englisch war mörderisch, es stand auch gerade kein Dolmetsch zur Verfügung und wir kamen sprachlich auf keinen grünen Zweig – bis mir die Geduld riss und ich übergangslos ins Russische wechselte. Er runzelte die Brauen („was erfrecht sich der Kerl, mich in der Sprache unserer Knechtschaft anzureden…?“ mag er sich wohl gedacht haben). Aber siehe da, nach kurzem Zögern antwortete er in geläufigem Russisch, welches besser war als das meine und wir einigten uns schließlich auf einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss…

Und einige Jahre später wurde ich wieder ins „russische Milieu“ berufen: von 2001 an, ich war inzwischen 72 Jahre alt geworden, begann ich meine Karriere beim Österreichischen Versöhnungsfonds (ÖVF), die ich erst sechs Jahre später beenden sollte. Ich beschäftigte mich mit den Zwangsarbeitern aus der ehemaligen Sowjetunion, die im 2. Weltkrieg auf dem Boden des heutigen Österreichs gearbeitet hatten und nun auf Grund zwischenstaatlicher Regelungen von Österreich symbolische Abfindungsbeträge erhalten sollten. Ich hielt mich in diesem Zeitraum insgesamt 21 Male in Moskau, Kiew oder Minsk auf und wurde von der AUA zum Multiflier gekürt. Neben vielen mündlichen Verhandlungen in den genannten Städten, die stets in der Sprache des Gastlandes geführt wurden, bestand meine Tätigkeit in der Durchsicht sowjetischer Geheimdienstakten, die zum Großteil aus der unmittelbaren Nachkriegszeit stammten. Da las ich in den Protokollen des NKWD, NKGB, MWD, MGB, aber auch vereinzelt des KGB und des GRU. Hier hätten Übersetzer nicht viel genutzt. Die Art, wie diese Bände verfasst waren, verlangte unbedingt eine unmittelbare Erfassung von sprachlichen und inhaltlichen Parametern sozusagen in „Tateinheit“, um sie für unsere Zwecke auswerten zu können[vi] . Dabei hatte ich die für meine Augen keineswegs zuträgliche Chance, mich in die Schreibschrift der wackeren Tschekisten einzulesen – und dies gestaltete sich bisweilen zu einer ophthalmologische Grausamkeit aus…

Aber auch in unserem ÖVF-Büro in Wien wurde mir sehr großzügige Übungsmöglichkeiten hinsichtlich der sprachlichen Perfektionierung geboten: es ergab sich mehrmals in der Woche die Notwendigkeit, mit den Vertretern der Partnerorganisationen telefonische Rücksprache hinsichtlich unserer gemeinsamen Arbeit zu führen, wobei auch aus Minsk und Kiew klassisches Russisch als Kommunikationsmittel angeboten wurde. Die neu hinzugekommenen National-Idiome spielten hiebei höchstens bei gewissen Schriftstücken eine – und auch da nur untergeordnete – Rolle. Trotzdem lernte ich etwas Ukrainisch dazu – wenn man eine slawische Sprache halbwegs beherrscht, so „fliegen“ einem die anderen relativ leicht zu, wenn man hiebei auch durchaus engere und entferntere Verwandtschaften berücksichtigen muss.

 

Russisch: Nutzanwendungen – „augmented reality“ potentialities?

Nun und welche Schlüsse kann man aus obigen Erlebnisberichten für die Gegenwart und für künftige Dezennien ziehen? Mit solch dramatischen Kataklysmen, wie sie in meiner Jugend über Europa hinweg gedonnert sind, dürfte aus heutiger Sicht in absehbarer Zeit wohl nicht mehr zu rechnen sein. Die strategische Situation, würden Politikwissenschaftler und militärische Fachleute sagen, hat sich grundlegend gewandelt und die Idee von der Weltherrschaft des Kommunismus kann man von nun ab wohl eher in ihren anthropomorphen Residuen entlang der Kremlmauer an der Krasnaja Ploschad („Roter Platz“) je nach Geschmack bewundern oder verdammen.

Die russische Gesellschaft, die Medien, selbst die neue Nomenklatura sind offener und transparenter geworden. Aber sie sind vor allem dann mit größerer Effizienz zu penetrieren, wenn man ihre Sprache spricht, die ja auch als Ausdruck der großen kulturellen Errungenschaften des russischen Geisteslebens in Erscheinung tritt.

Hier bietet sich ein Vergleich mit dem in Städteplanung und Architektur bereits geläufigen Begriff der „augmented reality“ an. Was heißt das? Es wird heute schon daran gearbeitet, mit Hilfe elektronischer Finessen künftige architektonische Komplexe sozusagen life darzustellen. Nun benötigt eine Analyse des voraussichtlichen späteren Status des groß-russischen Raumes, seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gestaltung unbedingt eine spezifische „Software“ mit einem ausgeklügelten Trackingsystem, wobei eine profunde Kenntnis der russischen Sprache zweifelsohne einen der wesentlichsten Bestandteile derselben bildet.

Sicher gibt es heute mehr Englisch- oder Deutschsprechende in dem Land als zu Sowjetzeiten. Aber Russisch hat seinen besonderen Klang. Wenn ein Einheimischer in seinem eigenen Idiom angesprochen wird, hebt dies den Emotionalitätsspiegel und er reagiert unwillkürlich mit mehr Offenheit, als wenn die Konversation über einen Dolmetsch oder in einer dritten Sprache abläuft.

Ich habe bei heiklen Themen oder im Falle der Notwendigkeit der Erzielung eines Konsenses gegenüber meinen Gesprächspartnern im sowjetischen Milieu fast immer (Ausnahmen siehe weiter oben!) die russische Sprache verwendet, weil ich dann sicher war, dass der Partner mit der richtigen Wortwahl konfrontiert wird und keine Ambiguitäten oder Übersetzungsfehler entstehen, die in vielen Fällen den Erfolg eines Gedankenaustausches oder eines Vorbringens in Frage stellen können.

Und vorläufig gilt dieses Plädoyer für die russische Sprache weitgehend ebenso für die meisten Bereiche der Ukraine und auch im Falle Weißrusslands, wie ich aus meinen persönlichen Erfahrungen aus den ersten Jahren des verflossenen Jahrzehnts weiß.

Dieser Großraum wird weiterhin für das sich nun konfigurierende geeinte Europa ein Ansprechpartner erster Ordnung bleiben: po etomu – dawajite, utschites russkomu jasiku![vii]

 

 

 



[i] „Sichel und Hammer“ (Im Folgenden sind die russischen Wörter so transliteriert, dass sie ohne Vorkenntnisse einfach gelesen werden können).

[ii] „Nikita Sergejewitsch wurde unser Brautwerber“.

[iii] „auf Russisch“

[iv] United Nations Development Programme

[v] Um im dem amtlichen Sprachgebrauch in den sowjetischen Nachfolgestaaten sattelfest zu werden, muss man auch die dort grassierende Manie der ständigen Umbenennung von Orts- und Gegenstandsbezeichnungen geistig absorbieren; so gibt es einen (jetzt) russischen Flugzeugträger, der sage und schreibe schon vier verschiedenen Namen getragen hat: „Riga“, „Leonid Brezhnew“, „Tbilisi“, „Admiral Kusnezow“. Eine Gasse in Moskau, an der die österreichische Botschaft liegt, befindet sich derzeit bei Bezeichnung Nr. 3 seit den 1930er Jahren.

[vi] Der werte Leser, der sich mit der russischen Sprache schon einigermaßen vertraut gemacht hat, wird diese Akronyme zweifellos schon in ihrer spezifischen Symbolik deuten können. Die Bezeichnung dieser Organe hat in der Sowjetperiode mindestens acht Mal gewechselt, heute noch verwendet man für ihre Mitglieder den Sammelnamen „Tschekisten“, was eine Ableitung vom Namen der ersten einschlägigen Truppe („Tscheka“ in der ortsüblichen Abkürzung) darstellt, die noch von dem polnischen Aristokraten Felix Dserzhinskij 1917 aus der Taufe gehoben worden ist. Wenn man nicht nur sprechen, sondern auch übersetzen will, muss man sich unweigerlich auch auf solche Hintertreppen des russischen Politvokabulars begeben.

[vii] Deshalb los! Lernt Russisch!

Warum sollte man (noch immer) Russisch lernen? (pdf)