Russisch in der Europäischen Union
Wenn am Schottengymnasium seit 1989 im Fach Russisch Sprachreisen als Schüleraustausch organisiert worden waren, warum sollten sie jetzt nicht mehr möglich sein? Nach Moskau konnten wir 2023 aufgrund der politischen Umstände zurzeit nicht fahren, aber es bot sich das Baltikum an, das zum beiderseitigen Vorteil Teil der Europäischen Union ist. In Riga, Lettland, ist Russisch Alltagssprache. Das war der erste Grund, diese neue Destination zu wählen.
Gemeinsam mit Ekaterina Kobler, die als Fremdenführerin mit dem osteuropäischen Raum vertraut ist, fanden wir eine Schule im Zentrum Rigas, die bereit war unsere Schüler aufzunehmen. Mit 28 Schülerinnen und Schülern war es die größte Gruppe österreichischer Russischschüler heuer in Lettland.
Die Idee zu diesem Reiseziel kam von Russischlehrerkollegen im Gymnasium Graz Liebenau, die selbst nach einer vorläufigen Alternative zu den Russlandreisen gesucht hatten. Sie berichteten von ihren positiven Erfahrungen mit dem Bildungsprogramm Erasmus+, das Auslandsaufenthalte von Schülern und Lehrern fördert. So beantragte das Schottengymnasium ein kurzfristiges Projekt bei Erasmus+, das im Mai 2023 bewilligt wurde.
Die Ziele unseres Erasmus+-Projekts bestanden darin, Russischkenntnisse zu vertiefen, die Kultur und Geschichte Lettlands kennenzulernen und das eigene Land zu präsentieren, den Beitrag der Europäischen Union zum Frieden in Europa zu sehen und das Christentum als prägenden Faktor in der lettischen Gesellschaft zu erkennen. Diese Ziele, die wir uns selbst im Antragsprozess setzten, gaben den Rahmen für unser Programm in Riga vor.
Über Erasmus+ wurde eine Vorbereitungsreise finanziert, die eine erste Bekanntschaft mit den Lehrern der Schule Nr 40 in Riga ermöglichte. Es war eine interessante Fügung, dass Frau Kobler und ich am 5. Juni, dem Geburtstag meines Russichlehrers P. Bonifaz Tittel in Riga ankamen und am folgenden Tag, dem Geburtstag des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin das Koordinationstreffen in der Rigaer Schule hatten. In der Woche davor war des nachts das Puschkindenkmal aus einem öffentlichen Park entfernt worden. Überraschend für uns war die Erkenntnis, dass sich je nach Quellen 27% bis 45% der Bevölkerung Lettlands der russischen Ethnie zurechnen und noch mehr Russisch als Muttersprache angeben. Wir hatten zuerst Scheu, auf dem Markt Russisch zu sprechen. Doch eine junge Verkäuferin antwortete uns munter auf Russisch, obwohl es ihrer Aussage nach in Geschäften untersagt sei. In der Europäischen Union werden 1,2 Mio Menschen der russischsprachigen Minderheit zugerechnet. Unsere neue Partnerschue, die „Rīgas 40. vidusskola“ (vidusskola bezeichnet die österreichische Mittelschule und AHS) gilt als Schule der russischsprachigen Minderheit, wobei die Schüler 12 verschiedenen Ethnien angehören. Jeder der 28 Schüler des Schottengymnasiums, denen sich 4 Schüler aus dem Billrothgymnasium anschlossen, wurde ein lettischer Schüler zugeteilt. Eine neue Erkenntnis war, dass sich die Schüler als „Russen“, nicht als „Letten“ bezeichnen. Im Russichen unterscheidet man zwischen lettisch als Ethnie bzw. Volksgruppe „латышский“ (latyschskij) und lettisch als Staatszugehörigkeit „латвийский“ (latvijskij). Für uns Österreicher ist diese Unterscheidung in Staatszugehörigkeit und ethnischer Identität aufgrund der traditionellen sprachlichen Minderheiten wie der slowenischen und kroatischen bekannt, Wienern aber nicht unbedingt bewusst.
Wir hattenwährend unseres Aufenthalts in Riga vom 9.-17.9.2023 ein reiches Programm, in das die Schüler unserer Partnerschule eingebunden waren. Das unterstützt die Idee von Erasmus+, durch die „peer-to-peer-communication“ die Integration Europas zu fördern. Unsere Partnerschule organisierte gemeinsame Unterrichtsstunden in Deutsch und Englisch für lettische und österreichische Schüler. In eigenen Russischstunden beschäftigten sich die Schottengymnasiasten mit Puschkins Schaffen, weil sie gemeinsam mit ihren Gastgebern das Ballet „Bachtschissarajskij Fontan“ in der Lettischen Staatsoper besuchen wollten.
Der bekannte Fernsehjournalist Igor Gusev führte sie durch Riga und zeigte ihnen die Bezüge zur russischen und deutschen Kultur im lettischen Kontext. Dabei wies er darauf hin, dass nach archäologischen Funden das Gebiet Lettlands zur Einflusssphäre der Waräger und damit der Ostslawen gehörte. Als die deutschen Ritter unter der Führung des bremischen Bischofs Albert Anfang des 13. Jh. Livland, das heutige Lettland und Estland, besetzten stießen sie auf Livländer und Slawen. Der Handel mit dem europäischen Osten über den Fluss Düna war für sie ertragreich. Riga wuchs in seiner Bedeutung auch in der Zeit der schwedischen Herrschaft und ab Ende des 17.Jh. unter russischer Regierung zur drittgrößten Industriestadt des Zarenreiches heran. Die deutsche Bevölkerung prägte das Land kulturell bis zur Absiedelung 1939. Richard Wagner und Johann Gottfried Herder wirkten im 19. Jh. in Riga. Heute erinnern die mittelalterlichen Backsteinkirchen und die Burgen an den deutschen Einfluss. In der Jakobskirche im Zentrum Rigas feierten wir die Hl. Messe am Sonntag in Englisch mit, die Pfarre lud uns auf ein eigens organisiertes Pfarrcafé ein. Als wir die russische orthodoxe Kirche in Riga besuchten, sprach uns einer der Priester an und erzählte freudig von seiner Kirche.
Die Gastfreundschaft, die wir von unseren Sprachreisen kennen, begegnete uns auch in Riga. Die Schüler unserer Schulen verstanden sich vom ersten Tag an so gut, dass wir mit Hilfe der österreichischen Gastfamilien 8 Schüler aus der lettisch-russischen vidusskola zu einem Gegenbesuch nach Wien einladen konnten. Sowohl in Riga als auch in Wien wurde ein Fest anlässlich des Besuches der Gäste organisiert. Im Schottengymnasium nannten wir es „Fest der Russischen Sprache“. Die österreichische Botschafterin für Lettland Mag. Bernadette Klösch besuchte sowohl die lettische als auch unsere Schule und interessierte sich für die Frage der Minderheiten in Riga. Im Gespräch mit allen Schülern, die am Austauchprojekt beteiligt waren, wies sie auf die Wichtigkeit ihrer Kontakte untereinander hin. Eine der Schülerinnen aus Riga verbrachte das Sommersemester 2024 am Schottengymnasium. Sie spricht ausgezeichnet Deutsch, weil es eine Schwerpunktsprache an der Rīgas 40. vidusskola ist. Die guten Erfahrungen mit dem Erasmus+-Projekt veranlasste das Schottengymnasium zu einem Antrag auf Akkreditierung der Schule im Erasmus+-Programm bis 2027, dem im Jänner 2024 stattgegeben wurde. So können künftig Auslandsreisen von Gruppen und Einzelpersonen aus unserer Schule durch Mittel der Europäische Union gefördert werden.
Unsere Erwartungen an die Sprachreise wurden bei weitem übertroffen. Die Schüler und Schülerinnen konnten nicht nur ihre Russischkenntnisse anwenden. Sie beschäftigten sich auch mit der Kultur eines Landes, die nur wenigen Österreichern bekannt ist. Sie erkannten die Verbindung zwischen dem deutschen, baltischen und russischen Kulturkreis, eingebettet in die gegenseitige Gastfreundschaft junger Menschen gleichen Alters.
Statistik Russischsprechende in der Europäischen Union 1,2 Mio
